Der gemeinsame Schlaf aus Sicht der Evolution

Dr. Herbert Renz-Polster

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Foto: Jürgen Hudelmayer

Babys und Schlafen ist ein Thema, das alle Eltern interessiert, aber auch viele Fragen aufwirft. Wo und wie schlafen Säuglinge gut und sicher? Wie lange sollen Babys und Kleinkinder bei ihren Eltern im Zimmer schlafen? Inwieweit beeinflusst das Schlafthema die Paarbeziehung der Eltern? Viele dieser Fragen werden nachfolgend aus Sicht der Evolution betrachtet und erklärt. Darüber hinaus gibt es vielfältige Anregungen, um die Schlafsicherheit für Babys zu gewährleisten und die individuellen Lebensgewohnheiten von Familien zu berücksichtigen.

Der gemeinsame Schlaf als Hilfe zur Selbstregulation

So unterschiedlich die menschlichen Kulturen rund um den Globus sind, in einem sind sie sich einig: Kleine Kinder gehören nachts in die Nähe ihrer Eltern. Mit einer Ausnahme: der modernen westlichen Welt. Da nehmen die meisten Eltern an, kleine Kinder sollten schon deshalb im eigenen Bettchen schlafen, weil sie sonst nicht selbstständig würden. Und auch die Kinderärzte bringen gewichtige Argumente vor: Der gemeinsame Schlaf mit den Eltern könne sogar gefährlich sein!

Wer hat Recht? Ist das gemeinsame Bett für kleine Kinder ein Vorteil oder ein Entwicklungshemmnis?

Was ist »normal«?

Nach Schätzungen schlafen hierzulande etwa zehn Prozent der Babys regelmäßig im Bett ihrer Eltern. Glaubt man Daten aus den USA, so nimmt das Phänomen eher zu. Dort schlief noch vor zehn Jahren nur jedes zwanzigste Kind im Bett der Eltern, heute ist es jedes sechste.

Was steht hinter der Wahl des Schlafplatzes? Die Wünsche der Kinder? Die Bequemlichkeit der Eltern? Und was ist wohl »von Natur aus« vorgesehen? Versuchen wir den gemeinsamen Schlaf besser zu verstehen.

Warum Kinder beim Schlafen die Nähe ihrer Mutter bzw. vertrauter Erwachsener aus Sicherheitsgründen »erwarten«, wurde im letzten Kapitel ausführlich begründet. Der gemeinsame Schlaf scheint aber auch direkte körperliche Auswirkungen zu haben. So zeigen Studien im Schlaflabor: Gestillte Kinder, die bei ihrer Mutter schlafen, sind nachts doppelt so oft (und fast dreimal so lang) am Busen zugange wie ihre ebenfalls gestillten, aber getrennt von der Mutter schlafenden Altersgenossen. Der Forscher James McKenna konnte zeigen, dass bei der Mutter schlafende gestillte Säuglinge nachts immerhin ein Drittel mehr Kalorien zu sich nehmen als die im eigenen Bett schlafenden Säuglinge! Bis in die jüngste Zeit hinein dürfte ein solcher Zuschlag sowohl für die Ernährung als auch für das Immunsystem von Vorteil gewesen sein.

Die Nähe zur Mutter unterstützt auch andere wichtige Körperfunktionen des Babys. Wie wir in Kapitel 12 noch im Detail sehen werden, verhilft das Schlafen am Körper der Mutter jungen Babys nicht nur zu einem stabileren Herzschlag und Atmungsrhythmus, sondern hilft ihnen auch ihre Wärme besser zu halten. In den ersten Wochen und Monaten kann das Baby nämlich seine Wärme selbst noch nicht gut regulieren und ist zumindest unter klimatischem Stress – und der war vor der Zeit beheizter Häuser nur allzu real – von Auskühlung bedroht. Messungen zeigen, dass im eigenen Bettchen schlafende Säuglinge eine niedrigere Körpertemperatur haben als gestillte, bei ihrer Mutter im Bett schlafende Babys – Säuglinge scheinen den Körper ihrer Mutter also auch als wohlfeile Energiequelle zu nutzen.

Dabei regulieren sich Mutter und Kind wie über eine Art gemeinsamer Thermostat wechselseitig: Zu Beginn des Haut-zu-Haut-Kontaktes steigt die Hauttemperatur zunächst bei der Mutter, dann auch beim Baby über etwa eine Stunde ganz langsam an. Ist ein Plateau erreicht, sinkt die Hauttemperatur der Mutter wieder – um erneut anzusteigen, wenn die Hauttemperatur des Babys abfällt.

Damit spricht vieles dafür, dass die Mutter für das Kind an ihrer Seite eine Art Reifungsstütze ist, die dem vergleichsweise unreif geborenen Menschenkind erlaubt, seine körperlichen Funktionen rascher zu entwickeln.

Ob das gemeinsame Schlafen die Entwicklung insgesamt fördert, lässt sich dagegen weitaus schwerer belegen. Es gibt keine wissenschaftliche Studie, die sicher nachweist, dass sich die mit ihren Müttern schlafenden Kinder besser entwickeln (eine solche Studie ist auch aus methodischen Gründen nicht möglich). Bekannt ist nur: Zumindest die Entwicklung frühgeborener Kinder verläuft eindeutig besser, wenn sie im körperlichen Nahbereich der Mutter schlafen können: Nicht nur sind ihre lebenswichtigen Körperfunktionen (Herzschlag, Atmung, Temperaturregulation, Sauerstoffversorgung) stabiler, sie gedeihen auch besser, wachsen schneller und entwickeln sich auch neurologisch günstiger, d.h. sie erreichen viele »Meilensteine« ihrer Entwicklung früher.

Mutter und Kind – ein Schlafteam

Genau wie bei der Temperaturregulierung scheinen sich Mutter und Kind auch bei der Schlaftiefe intutiv abzustimmen. So zeigen nächtliche Messungen, dass die Babys und ihre Mütter viele Schlafstadien im gleichen Takt durchlaufen. Kein Wunder, dass neben der Gehirnaktivität auch Herzfrequenz, Muskelspannung und die Atmung in etwa synchron verlaufen!

Die »stützende« Funktion eines Bettpartners wurde sogar in der Medizin genutzt, um Frühgeborenen zu einem besseren Schlaf zu verhelfen. Da sich die Mutter ja nicht zum Kind in den Inkubator legen kann, wurde ein »atmender Teddybär« entwickelt, der im Rhythmus des Kindes atmet. Die Babys, die mit dem atmenden Bär schliefen, hatten einen regelmäßigeren, ruhigeren Schlaf als Kinder, die nur einen nicht-atmenden Teddybär an ihrer Seite hatten. Auch zeigte sich bei diesen Experimenten, dass die Babys im Schlaf von sich aus zu dem atmenden Bär Kontakt suchten – was sie bei dem nicht-atmenden Bär nicht taten. Die Forscher gehen deshalb auch hier davon aus, dass die rhythmische Stimulierung die Gehirnreifung der Kinder unterstützt. Es gibt sogar Hinweise, dass der »atmende Bär« auch reifgeborenen Babys in den ersten sechs Monaten zu einem besseren Schlaf verhilft.

Videoaufnahmen mit Infrarotkameras zeigen zudem, dass selbst die Bewegungen von Mutter und Kind unbewusst aufeinander abgestimmt sind. Die meisten beobachteten Mutter-Kind-Paare liegen sich fast die ganze Nacht Gesicht zu Gesicht gegenüber. Dabei werden immer wieder schützende oder »ordnende« Eingriffe der Mutter beobachtet. So lagert die Mutter ihr Baby beispielsweise nicht selten um und das selbst, während sie schläft! Dabei legt sie das Kind interessanterweise fast immer auf den Rücken, also in die inzwischen als sicherste Schlafposition erkannte Position – möglicherweise, weil das Stillen so leichter ist. Und immer wieder bekommt das Kind Zuwendung: Die Mutter klopft, streichelt, schaukelt und umarmt das Baby, auch Flüstern und Reden kommen vor. Die beständige sinnliche Kommunikation hat auch Einfluss auf die Schlafarchitektur des Kindes: Säuglinge, die im Nahbereich der Mutter schlafen, verbringen – verglichen mit Alleinschläfern – insgesamt weniger Zeit im Tiefschlaf und tauchen häufiger für kurze Zeit an die Schlafoberfläche.

Das klingt nicht gerade nach einem erholsamen Schlaf! Die Schlafforscherin Sarah Mosko ist der Frage nach der Schlafqualität in einem Experiment nachgegangen. In ihrem Versuch wurden vier Monate alte Babys von ihren Müttern abwechselnd in der einen Nacht zu sich ins Bett genommen und in der anderen Nacht in getrennten Zimmern zum Schlafen gelegt. Dabei wurden die Hirnstromkurven der Kinder aufgezeichnet und ihr Schlaf über eine Infrarotkamera beobachtet. Das Ergebnis: Wenn sie bei ihren Müttern schliefen, wachten die Babys zwar öfter für kurze Zeit auf, über die ganze Nacht gerechnet waren sie aber insgesamt eine kürzere Zeit wach, und sie weinten auch seltener. Auch die Mütter wachten zwar öfter auf, schliefen im Schnitt aber mindestens genau so lang, wenn sie ihr Baby bei sich hatten. Interessant dabei: Da bei den gemeinsam schlafenden Mutter-Kind-Paaren die Schlaf- und Traumphasen zwischen Mutter und Kind zu einem großen Teil aufeinander abgestimmt sind, werden die mit ihrem Baby schlafenden Mütter sehr viel seltener in der Phase des Tiefschlafs aufgeweckt!

Babys schlafen im Bett der Mutter also anders. Ihr Schlaf ist deshalb aber nicht von minderer Qualität. Sie wachen zwar häufiger auf, tauchen aber schneller wieder in den Schlaf zurück. Die Einzelschläfer dagegen wachen seltener auf – wenn sie aber aufwachen, dann richtig und mit gehörigem Protest. Für die Mutter gilt Ähnliches: Schläft sie mit ihrem Säugling, so ist ihr Schlaf zwar leichter, allerdings deshalb nicht weniger erholsam – weil sich ihre Schlafphasen auf den Schlaf des Kindes einstellen, wird sie seltener aus dem erholsamen Tiefschlaf gerissen.

Der gemeinsame Schlaf: Pro und Kontra

Gehören Kinder ins eigene Bett oder ins Bett der Eltern? Von den Befürwortern des Alleinschlafens hört man immer wieder vier Argumente:

  • Die von den Eltern bitter benötigte Privat- oder »Paarsphäre« sei durch das mitschlafende Kind in Gefahr.
  • Der Schlaf sei im eigenen Bett erholsamer.
  • Babys gehörten in ihr eigenes Bett, weil sie sonst nicht selbstständig würden.
  • Und schließlich: Das Baby könne durch das Mitschlafen sogar gefährdet werden!

Gehen wir die Argumente der Reihe nach durch.

Gefährdet der gemeinsame Schlaf die Elternbeziehung?

In der Tat enthält das gemeinsame Schlafen von Mutter und Kind in einer ganz zentral auf die Zweierbeziehung zugeschnittenen Lebenswelt einiges Dynamit. Denn das Bett ist in unserem Kulturkreis nun einmal auch der Platz an dem Vertraulichkeiten ausgetauscht und die Paarbeziehung in körperlicher und emotionaler Hinsicht gepflegt wird. Schaut man sich in anderen Kulturen um, so ist offensichtlich, dass viele traditionelle Schlafarrangements von Mutter und Kind den Vater ausschließen (der schläft – etwa in Westafrika – in einer eigenen Hütte). Allerdings ist auch das richtig: Wo ein Wille ist, lässt sich unter heutigen baulichen und schlafmöbeltechnischen Bedingungen meist auch ein Weg finden, um zumindest das Platzproblem befriedigend zu lösen. Inzwischen bietet die Industrie sogar an das Elternbett ankoppelbare Bettchen für das Baby an.

Und was die emotionale Seite angeht: Der Beziehung der Eltern stellen sich nach der Geburt eines Kindes viele Hindernisse entgegen – von der Müdigkeit, über die schlichtweg fehlende Kraft bis hin zu den vielen neuen Wirbeln im Gefühlshaushalt der Eltern. Nicht wenige Eltern haben das Gefühl, dass ihre Zweierbeziehung regelrecht aufgebrochen wird und dass sie ein neues Fundament für die Beziehung finden müssen. Ob die Suche gelingt, dürfte nur wenig davon abhängen, ob das Kind nun mit den Eltern im Bett schläft oder nicht. Und auch die nach der Geburt eines Kindes oft beklagten Sex-Flaute liegt in den seltensten Fällen daran, dass das Baby stört – als vielmehr an der in den ersten Monaten nach der Geburt zumindest bei der Mutter ganz normalen Lustlosigkeit (wir werden auf das nachgeburtliche Familiendilemma in Kapitel 12 noch einmal zu sprechen kommen).

Welches Arrangement ist besser für den Schlaf?

Wie wir weiter oben gesehen haben, leidet der Schlaf durch das enge Zusammenschlafen nicht. Im Gegenteil: Der Schlaf des Babys als auch der seiner Mutter ist beim gemeinsamen Schlafen oft besser. Auch bewerten Mütter, die ihre Babys bei sich im Bett schlafen lassen, ihren eigenen Schlaf positiver als Mütter, deren Babys in einem separaten Zimmer schlafen. Heißt das, dass jede Mutter besser fährt? Durchaus nicht. Diese Ergebnisse geben nur die Situation bei »freiwilligen« Schlafpartnern wider, sie gelten also für diejenigen Mütter, die sich bewusst für das Schlafen mit ihrem Kind entschieden haben. Eltern, die ihre Kinder ins Elternbett aufnehmen, weil »nichts anderes mehr hilft«, fühlen sich dagegen in ihrem Schlaf oft deutlich gestört. Letzteres scheint ein zunehmendes Problem zu sein.

Leider ist die Stimme des Vaters in den wissenschaftlichen Studien zum gemeinsamen Schlafen im Elternbett nur selten zu hören. Zu vermuten ist, dass für seine Schlafqualität Ähnliches gilt wie für die Mutter: Sieht er das Arrangement positiv, wird sein Schlaf wenig leiden, lehnt er es ab, so sind Stress und Konflikte vorprogrammiert.

Der gemeinsame Schlaf als falsches Signal in der Erziehung?

Nähe ist in den westlichen Industriekulturen eine zweideutige Angelegenheit – einerseits ist es das Ideal einer »guten« Beziehung in der Partnerschaft und in der Familie schlechthin. Andererseits wird zu viel Nähe als psychologisch ungesund angesehen, als Selbstaufgabe oder als Verlust von Eigenständigkeit. Wir wollen uns in der partnerschaftlichen Beziehung möglichst nahe sein, dabei aber gleichzeitig unseren eigenen Raum nicht verlieren. Und das gilt auch für die Kinder: Wir wollen ihnen so viel Wärme, emotionale Unterstützung und Nähe geben wie nur möglich – wir halten es aber gleichzeitig für wichtig, ihre Selbstständigkeit zu fördern und sie nicht zu »verwöhnen« – wenig überraschend, dass in diesem Zielkonflikt das gemeinsame Schlafen von Mutter und Kind ganz im Mittelpunkt steht.

Zu den Einflüssen des Schlafarrangements auf die emotionale Entwicklung des Kindes liegt wenig Gesichertes vor. Schließlich gehen gemeinsam schlafende und getrennt schlafende Mutter-Kind-Paare auch tagsüber unterschiedlich miteinander um, und das macht die Erforschung dieses Themas recht schwierig. Die Frage etwa, wie sich das Schlafen im Nahbereich der Mutter auf die Bindung zwischen Mutter und Kind auswirkt, ist im Grunde unbeantwortet. Bekannt ist lediglich aus Studien an Kindern, die in verschiedenen israelischen Kibuzzen aufwuchsen, dass sich eine sichere Bindung häufiger bei denjenigen Kindern einstellte, die bei ihren Eltern schliefen – ein Unterschied, der sich selbst noch bei Jugendlichen nachweisen ließ.

Schon ergiebiger ist eine andere Frage: Sind Kinder, die bei ihren Eltern schlafen, später im Leben weniger selbstständig? Aus evolutionärer Sicht ist die Antwort eindeutig: Dass möglichst frühes selbstständiges Schlafen ein wichtiger oder notwendiger Schritt für spätere Selbstständigkeit wäre, ist nicht plausibel. Auch die Forschung sieht keinen Hinweis, dass die Fähigkeit allein einzuschlafen einem Kind zu mehr sozialer Kompetenz oder psychologischer Unabhängigkeit verhilft. So zeigt eine aktuelle Studie an der Universität von Kalifornien, dass das Schlafen bei der Mutter weder die Fähigkeit, während des Tages allein zu sein, noch die Offenheit gegenüber neuen Situationen vermindert. In dieser Studie schnitten die bei der Mutter schlafenden Kinder in beiden Bereichen sogar besser ab als die getrennt schlafenden Kinder.

Schon in früheren Studien war festgestellt worden, dass die »geplant« ins gemeinsame Bett aufgenommenen Kinder später die selbstbewusstesten Vorschulkinder sind und auch als Studenten ein höheres Selbstwertgefühl haben. Natürlich können solche Studien einen ursächlichen Zusammenhang nicht beweisen, aber sie unterstützen ein einleuchtendes Argument: Selbstständige Schläfer sind selbstständige Schläfer – und dadurch nicht unbedingt selbstständige Menschen.

Und selbst was den Schlaf angeht, scheint das »Erlernte« nicht lebenslang vorzuhalten: 62 Prozent der heutigen amerikanischen Erwachsenen, die von ihren Eltern wahrscheinlich meist nach dem Motto »Schlaf-süß-aber-allein« in den Schlaf gebracht wurden, geben gegenwärtig Schlafprobleme an.

Das geteilte Bett als gesundheitliches Risiko?

Schon im Mittelalter war das Ersticken der Säuglinge an der Seite ihrer Mutter bzw. ihrer Amme ein Thema. Das Phänomen des »zu Tode Liegens« war zu manchen Zeiten sogar so häufig, dass ein Holzgestell erfunden wurde, das Ammen unter Strafe der Exkommunikation um das schlafende Baby herum anbringen mussten! Allerdings hatte diese Maßnahme keinen Einfluss auf die Sterblichkeit. Heute gehen Historiker und Ethnologen davon aus, dass sich hinter der gerade im 18. Jahrhundert grassierenden Epidemie des »Zu-Tode-Liegens« letzten Endes Kindstötung bzw. »nachträgliche Familienplanung« verbarg. Der Erstickungstod, so der naheliegende Verdacht, war die Spitze eines Eisbergs aus unqualifizierter Fremdbetreuung in einer Zeit, in der Säuglinge massenhaft an Ammen abgegeben und damit letzten Endes aufgegeben wurden (eine hervorragende Zusammenfassung ist dem Buch Mutter Natur der bekannten Verhaltensforscherin Sarah Blaffer Hrdy zu entnehmen).

Wenn heute von den Risiken des gemeinsamen Schlafens von Erwachsenen und Säuglingen geredet wird, dann geht es nicht mehr um die Gefahr des »Zu-Tode-Liegens«, sondern um den »Plötzlichen Kindstod« – auch SIDS (sudden infant death syndrome) genannt. Am SIDS sterben derzeit in Deutschland etwa zwei von 1000 Säuglingen, am häufigsten zwischen dem dritten und sechsten Lebensmonat. Die genaue Ursache ist bis heute unbekannt. Sicher ist, dass äußere Erstickung durch Erdrücken dabei keine Rolle spielt. Vielmehr wird angenommen, dass die jungen Säuglinge durch ungünstige Einflüsse in ihrer Schlafumgebung ihre Atmung nicht mehr ausreichend steuern können. Dafür spricht, dass der plötzliche Kindstod allein durch die heute übliche Lagerung auf dem Rücken oder auf der Seite in den meisten Ländern um mehr als 70 Prozent (in Skandinavien sogar um bis zu 90 Prozent) zurückging.

Bekannt ist auch, dass der Plötzliche Kindstod in den westlichen Industrieländern, wo Babys routinemäßig alleine schlafen, sehr viel häufiger ist als dort, wo Babys nachts bei ihren (stillenden) Müttern schlafen. Das könnte daran liegen, dass der gemeinsame Schlaf, wie wir gesehen haben, dem Kind bei der Regulierung seiner noch unreifen Atmung hilft, oder auch damit, dass stillende Mütter ihre bei ihnen schlafenden Säuglinge automatisch auf dem Rücken oder auf der Seite lagern. Bekannt ist zudem, dass Säuglinge, die in einem eigenen Zimmer schlafen, gegenüber Säuglingen, deren Bettchen im Zimmer der Eltern steht, ein erhöhtes Risiko für den Plötzlichen Kindstod haben.

Wie kommt es dann, dass das gemeinsame Schlafen von Mutter und Baby als Risiko für SIDS genannt wird? Ja, dass manche Kinderärzte – und sogar die renommierte American Academy of Pediatrics – sich sogar generell gegen ein Zusammenschlafen von Säuglingen und ihren Eltern aussprechen?

Auf die Umstände kommt es an

Unter bestimmten Umständen kann das gemeinsame Bett tatsächlich eine Gefahr für das Baby darstellen. Und diese Umstände sind in unserem Kulturkreis gar nicht so selten. So haben Säuglinge, die im Bett rauchender Mütter schlafen, im Vergleich zu allein schlafenden Kindern ein vielfach höheres SIDS-Risiko. Das gilt auch für Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft geraucht haben. Es wird geschätzt, dass von den jährlich etwa 300 SIDS-Fällen in Deutschland mindestens ein Drittel auf dieses Konto geht.

Auch Säuglinge, die bei durch Suchtmittel oder Alkohol beeinträchtigten Müttern schlafen, sind gefährdet – wahrscheinlich deshalb, weil die weiter oben beschriebene schützende intuitive Kommunikation im Schlaf nicht greifen kann. Für den US-Bundesstaat Alaska etwa zeigte eine aufsehenerregende Studie, dass bei allen im gemeinsamen Bett aufgetretenen Kindstod-Fällen Suchtmittelmissbrauch im Spiel war! Weitere Risikofaktoren sind das Schlafen auf sehr weichen oder unebenen Unterlagen (etwa Sofa oder Wasserbett) sowie die Verwendung von Kissen, Fellen oder anderem weichen Bettzeug. Unter solchen Schlafbedingungen, so die Vermutung, könnte sich die Atemluft »aufstauen« und zu einem schleichenden Atemstillstand führen. Auch starkes Übergewicht der Mutter ist möglicherweise ungünstig.

Nicht unerwähnt bleiben sollte auch ein weiterer Zusammenhang: Das Risiko für den Plötzlichen Kindstod ist auch dort höher, wo eine nichtstillende Mutter mit ihrem jungen Säugling schläft. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die schützende intuitive Kommunikation im Schlaf bei einer nicht stillenden Mutter weniger ausgeprägt ist. Dafür spricht der Befund, dass auch das Schlafen mit dem Vater oder Geschwisterkindern mit einem gesteigerten SIDS-Risiko für den Säugling einhergeht.

Schaut man diese Risikofaktoren an, so wundert nicht, dass SIDS sehr viel häufiger in sozial benachteiligten Schichten vorkommt. In einer neueren Studie etwa betraf SIDS zu drei Vierteln Säuglinge von Müttern in der untersten Einkommensgruppe, 85 Prozent dieser Mütter rauchten in der Schwangerschaft und nur 26 Prozent hatten überhaupt versucht, ihr Kind zu stillen.

Dieser soziale Einfluss macht die wissenschaftliche Erforschung des SIDS-Risikos sehr schwierig. Denn das gemeinsame Schlafen von Säuglingen und Müttern findet unter extrem unterschiedlichen Bedingungen statt: Während viele Mütter es zum leichteren Stillen nutzen und dem Kind dabei ein gesundes Schlafumfeld bieten können, nutzen andere Mütter die praktischen Vorteile des Nebeneinanderschlafens im Rahmen eines ungünstigen Lebensstils (Rauchen, Alkohol, Drogen), in einem riskanten Schlafumfeld (Sofa, Wasserbett) und vor allem: ohne ihr Kind zu stillen. Wegen dieser sehr unterschiedlichen Verhältnisse müssen Daten aus statistischen Untersuchungen sehr vorsichtig interpretiert werden.

Fazit: Ein sicherer Schlaf ist für Babys heute sowohl im eigenen Bett als auch im Elternbett möglich, wenn die Regeln für ein sicheres Schlafumfeld befolgt werden. Für das Schlafen mit der Mutter heißt das: Das Baby schläft bei einer gesunden (nicht durch Alkohol, Drogen oder Beruhigungsmittel beeinträchtigten), stillenden, nicht rauchenden Mutter. Es gibt keine einzige Untersuchung, die einen nachteiligen Effekt des gemeinsamen Schlafens nachgewiesen hätte, wenn Mutter und Kind in diesem »vorgesehenen« Schlafumfeld schlafen.

Dagegen scheint es möglicherweise ungünstig zu sein, wenn ein Baby allein in einem separaten Zimmer schläft – jedenfalls haben solche Kinder statistisch ein erhöhtes Risiko für den Plötzlichen Kindstod.

Das Schlafen von Kleinkindern im Elternbett kann dagegen generell als sicher gelten – in dieser Altersgruppe können Kinder auch problemlos bei Geschwistern schlafen, wie dies in vielen Kulturen völlig normal ist.

Schlafarrangements sind Kompromisse

Auch wenn es im Zeitalter sicherer und warmer Häuser keinen objektiven Grund mehr gibt, warum Mutter und Kind nachts zusammen schlafen sollten, so setzt dies die subjektiven Erwartungen der Kinder nicht unbedingt außer Kraft – sie leben ja mit ihren Emotionen gewissermaßen noch in der Steinzeit. Für sie ist das Schlafen bei den Eltern der »Normalzustand«.

Auf welche Seite schlägt sich das evolutionäre Denken? Ist das gemeinsame Schlafen von Mutter und Säugling immer das Beste, weil das Kind dies »erwartet«? Auch hier läuft es auf das bereits Angesprochene hinaus: Eltern haben ihre eigenen Interessen, und deren Berücksichtigung ist nicht von vornherein schlecht, vielmehr ist auch dies Teil der evolutionären Tagesordnung. Eltern sollten also die zu erwartenden Belastungen und Belohnungen kennen und dann nach denjenigen Kompromissen suchen, die am besten zu ihrem Lebensumfeld, ihren Kräften und Lebensentwürfen passen.

Renz-polster-buchDieser Beitrag stammt aus dem Buch „Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt“ (Kösel Verlag 2009) – mit freundlicher Genehmigung des Autors Dr. Herbert Renz-Polster. Auf der Webseite www.kinder-verstehen.de finden sich weitere Informationen zum Thema. Die wissenschaftlichen Aussagen sind in dem Buch jeweils durch kurze Anmerkungen belegt. Diese finden sich auch unter www.kinder-verstehen.de/anmerkungen.html.

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Autor

Dr. med. Herbert Renz-Polster, geb. 1960, ist Kinderarzt und Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg.

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